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Kriegsbedingtes Lehrgeld

Der Krieg in der Ukraine ist für die dort lebenden Menschen und die kämpfenden Truppen eine große Tragödie. Aber auch für Kapitalanleger in russischen Wertpapieren markierte dieses Datum eine Zäsur. Nach den unmittelbaren Kursverlusten an den Börsen folgte nur wenige Tage später sanktionsbedingt ein Ende des Wertpapierhandels in russischen Aktien und eine Aussetzung des Anteilscheingeschäfts von Investmentfonds mit einem hohen Anteil an russischen Wertpapieren. Seit dieser Zeit kämpfen viele Anleger darum, Wertverluste zu vermeiden. In einigen Fällen sind hohe Wertverluste inzwischen "amtlich". Wir zeichnen die Erfahrungen eines Anlegers nach und zeigen auf, welche Fallstricke Anlegern in der heutigen Zeit zum Verhängnis werden können.

Schlechtes Investment

Rainer K.* ist ein erfahrener Anleger. Seit vielen Jahren investiert er in diverse Finanzprodukte, vorzugsweise in Aktien und Investmentfonds, meist in ETF - also börsengehandelten Indexfonds. Anfang 2022 war Rainer über einen Amundi ETF so in Russland engagiert. Russische Aktien waren damals keineswegs exotische Anlagen. Russlands Gewicht im Weltaktiendex betrug vor Ausbruch des Ukarine-Krieges rund 4%. Russland war vor allem bei Anlegern beliebt, die am Boom der Rohstoffwerte mitverdienen wollten. Aber: schon lange vor dem Ukraine-Krieg gab es Spannungen auf der geopolitischen Weltbühne und auch schon Sanktionen. Ein gewisses politisches Risiko musste man also in jedem Fall einkalkulieren, wenn man damals in Russland sein Geld anlegte.

Mit dem Einmarsch in Russland änderte sich die Risikolage jedoch schlagartig. Binnen weniger Tage verloren Aktien und die russische Währung, der Rubel, enorm an Wert. Die Börse antizipierte, was wenig später folgen sollte. Erst sperrte man Russland den Zugang zum internationalen Finanzsystem, dann sanktionierte "der Westen" jegliche Investments in Russland. Die Folge war, dass erst der Börsenhandel zum Erliegen kam und letztlich keinerlei Preisfeststellung mehr möglich war. Anleger, die in Russland investiert waren, saßen in ihren Positionen fest.

Auch Rainer konnte seinen Fonds nicht mehr verkaufen, sondern war nun davon abhängig, wie sich die Lage politisch weiterentwickeln würde - und was seine Fondsgesellschaft mit seinem Vermögen anstellen würde. Monatelang hörte Rainer nichts von seinem Investment. Anfang 2023 dann die Mitteilung seiner Fondsgesellschaft, dass man den Fonds auflösen wolle und müsse - und man diesen "bestmöglich" liquidieren werde. Das bedeutete nichts Gutes, denn offiziell gab es doch gar keinen Handel mehr. Wer sollte für diese Werte etwas zahlen wollen und können?

Doch eigentlich waren viele Aktien nach wie vor werthaltig. Denn in Russland wurden die meisten Aktien weitergehandelt - in Rubel und nur für zugelassene Anleger in Russland. Der Rubel stieg phasenweise stark an. Werte wie Sberbank kletterten sogar deutlich im (Rubel)-Kurs, während andere Aktien wie Gazprom fielen. Doch diese Trends spielten für Rainers Investment keine Rolle mehr. Er hatte keinen Einfluss mehr darauf, was mit seinem Vermögen passiert. Er wusste nicht (und weiß es bis heute nicht), wer welche Aktien wann an wen und zu welchem Preis verkaufte. Alles was Rainer K. von seinem Investment weiß ist, dass am 19.12.2024 sein Fonds endgültig geschlossen wurde - und er am 9.1.2025 seine Schlusszahlung erhielt. Am Ende steht ein Wertverlust von rund 90%.

Offene Fragen

Rainer K. hat sich an uns gewandt und uns seinen Fall geschildert. Wir finden, dass Anleger wie Rainer ein Anrecht darauf haben, mehr darüber zu erfahren, was mit ihrem Investment geschah. Wer hat wann warum welche Entscheidungen getroffen? Gab es Alternativen? Wie überwachen die Aufsichtsbehörden die Vorgänge? Welche Rolle spielte die Politik? Und was für Lehren sollten Rainer und andere Anleger aus diesen Ereignissen ziehen?

Um es vorwegzunehmen: was mit Rainers Investment passierte, gleicht in seiner Struktur einer Enteignung, für die am Ende aber niemand die (politische) Verantwortung tragen will. "Pech gehabt, Anleger müssen wissen was sie tun", ist eine uns bei unseren Recherchen mehrfach begegnete Floskel. Dieser Satz ist einerseits zutreffend, denn einige der sich in diesem Zusammenhang für Rainer materialisierten Risiken waren in der Tat absehbar. Sofern man die Produkte wirklich richtig verstanden hat.

Andererseits konnten sich manche Risiken auch nur durch entsprechende politische Entscheidungen einstellen. Enteignungsgleiche Vorgänge sind an den Finanzmärkten leider keine Seltenheit mehr. Erinnert sei beispielsweise an die "Übernacht-Enteignung" von privaten Gläubigern im Rahmen der "Griechenland-Rettung" oder der "bail-in" von Sparern, die ihr Geld zypriotischen Banken anvertraut hatten und Montags morgens mit einem Schuldenschnitt auf ihren Konten aufwachten.

Eine Frage der Anlage

Was genau wann an Sanktionsentscheidungen getroffen wurde und wie sich diese auf einzelne Kapitalmarktbereiche auswirkte, haben wir im Anhang in einem Zeitstrahl dargestellt. Wie möchten uns im Folgenden auf die wesentlichsten Eckpunkte einzelnen Vermögensarten beschränken.

Wer Anleihen oder Rubel besaß, hatte eigentlich keine unmittelbaren Auswirkungen auf seine Position, konnte aber weder Erträge entgegennehmen, noch die Positionen verkaufen. Russland hat sich nie geweigert seine Verpflichtungen zu erfüllen, durfte seine Anleihen aber nicht in Euro oder US-Dollar bedienen. Auch war der Zahlungsverkehr durch den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System weitgehend unmöglich geworden.

Deshalb bot Russland an, seine Verpflichtungen in Rubel zu zahlen, doch dies war ebenfalls aufgrund der Sanktionen verboten. Inzwischen sind die Fronten gegenseitig weiter verhärtet und sowohl "der Westen", also EU und USA, als auch Russland haben bereits gegenseitig Erträge aus Vermögenswerten eingefroren oder beschlagnahmt.

Im Aktienbereich waren die meisten Anleger (Privatanleger und Fonds), die in börsennotierten Unternehmen investieren wollten, nicht direkt in russischen Aktien engagiert. Üblich waren Investments in sog. A(merican) DRs bzw. G(lobal) DRs (DR = deposit receipts). Dabei handelt es sich um Zertifikate, die im Falle der ADR von US-Banken emittiert werden und jeweils den Rechtsanspruch eines festgelegten Zahl an Aktien verkörpern. Mit Hilfe dieser DRs wird der Zugang zu Märkten für Anleger erleichtert, der ansonsten nicht oder nur mit hohen Kosten möglich wäre. DRs sind z.B. auch für Investments in chinesische Aktien üblich.

Die ausgebende Depotbank ("DR-Programm-Bank") hält treuhänderisch die Aktien im jeweiligen Land, während die Anleger hierzulande die Zertifikate wie Aktien kostengünstig über die Heimatbörsen erwerben können. Während sich die Wertentwicklung der DR an den zugrundeliegenden Aktien orientiert und Anleger auch an Kapitalmaßnahmen oder Dividendenzahlungen partizipieren, sind die Besitzer des DR rechtlich keine Aktionäre sondern lediglich Besitzer eines Zertifikats, also einer Schuldverschreibung.

Nachdem sich die Sanktionsspirale eine zeitlang drehte, kündigte Russland die Verträge für "deposit receipts" und zwang damit die Depotbanken dazu, entweder die Rechte an den Aktien aufzugeben oder den Umtausch der Zertifikate in Aktien zu ermöglichen. Dies stellte unter den Bedingungen der Sanktionen ein schwieriges Unterfangen dar. Sowohl die Zahlstellen also auch die Banken der Kunden hatten große Probleme bei der Abwicklung zu unterstützen. Wie sollte man in Russland eine Depotverbindung oder Konten eröffnen? Zumal, wie uns ein Insider berichtete, die teils notwendige Unterstützung durch Anwälte fehlte. Viele hatten Angst, sich für Verstöße gegen das Sanktionsregime strafbar zu machen.

Parallel dazu zeigten sich die DR-Programm-Banken nicht unbedingt kooperativ, sondern wollten die russischen Aktien schnellstens verkaufen (an wen?) und nur noch Restwerte ausschütten. Eine detaillierte Auswertung zu den Wirkungen des EU-/US-Sanktionsregimens auf Anleihen und "Deposit Receipts" wurde für den Bundestag vom Fachbereich Europa erstellt. Darin sind auch Handlungsempfehlungen enthalten, die auf eine Einhaltung der Sanktionsbestimmungen abzielen.

Eine Anfrage bei der SdK e.V., der "Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger", ergab, dass es wohl nur wenigen Anlegern gelungen ist, ihre Ansprüche aus den Zertifikaten in - heute noch gültige - Ansprüche an Aktien in Russland zu tauschen. Doch selbst wenn dies gelang, dürften Anleger nur wenig Freude an ihren Investments haben. Die früher hohen Dividenden wurden zunächst auf Sperrkonten gezahlt - und inzwischen vom russischen Staat beschlagnahmt. Wer keine exzellenten Beziehungen direkt nach Russland hat, hat einen schweren Stand mit seinem Investment. Ende offen.

Doch Rainer K. hat sich ja nicht direkt in Einzeltiteln engagiert, sondern sich über Investmentfonds professioneller Vermögensverwalter bedient. Diese wussten doch sicher, was zu tun ist. Oder?

Abwicklung von Investmentfonds

Ein Fondsmanager hat zunächst die gleichen Schwierigkeiten im Handel wie ein Privatanleger. Aufgrund des fehlenden Börsenhandels an westlichen Börsen und des sanktionsbedingten Verbots, über russische Märkte zu handeln, waren die Fondsgesellschaften gezwungen das Anteilscheingeschäft auszusetzen. Anleger dürfen aber zu jedem Zeitpunkt darauf vertrauen, dass die Fondsgesellschaft im besten Interesse ihrer Anleger handelt. Das stellte auch die luxemburger Wertpapieraufsicht CSSF, zuständig für die Aufsicht über Rainers Amundi ETF, auf Anfrage klar:

"Die Liquidation von Teilfonds innerhalb von OGAW-Strukturen wird in erster Linie durch bestehende regulatorische Rahmenbedingungen und die eigenen Verwaltungsdokumente des Fonds geregelt. Es ist wichtig zu beachten, dass für die Liquidation von Teilfonds keine formelle Genehmigung der CSSF erforderlich ist. Wir überprüfen regelmäßig die Marktaktivität und vergewissern uns, dass alle beaufsichtigten Unternehmen die geltenden Gesetze und Vorschriften einhalten. Fondsmanager sind dafür verantwortlich, Entscheidungen über Liquidationen zu treffen und dabei die besten Interessen der Anleger zu berücksichtigen." (übersetzt aus dem Englischen mit deepl.com)

Die Aufsicht legt also auch in einem so schwierigen und einmaligen Fall wie diesem die Verantwortung "vertrauensvoll" in die Hand der Fondsverantwortlichen. Doch was ist das "beste Interesse der Anleger"?

Die einen wollen so schnell wie möglich ihr Geld zurück, die anderen würden es bevorzugen, wenn man einfach in Ruhe abwarten würde, bis wieder eine geordnete Preisstellung möglich ist. Beide Wege wären für eine Fondsgesellschaft grundsätzlich möglich.

Doch in Rainers speziellem Fall hat er nicht in einem "aktiven" Fonds investiert, also in ein Produkt wo der Fondsmanager frei entscheiden kann. Sondern Rainer investierte in einen sog. ETF, was für Exchange Traded Fund steht. Solche Fonds werden wie Aktien an der Börse gehandelt und bilden im Regelfall "passiv" die Wertentwicklung eines Index ab. Im Falle von Rainers Fonds handelte es sich dabei um den MSCI Russia Index.

Was viele Anleger in ETF vielleicht nicht immer bewusst ist, ist die Tatsache, dass die Performance zwar sich am gewählten Index orientiert. Der Fonds muss darüber hinaus aber auch alle anderen "Bewegungen" und Handlungen des Index nachvollziehen. Kommt eine neue Aktien in den Index, wird der Fonds diese kaufen. Wird durch eine Kapitalmaßnahme ein Wert ausgegliedert, so wird auch der Fonds das ausgegliederte Teilunternehmen verkaufen.

Und wenn im Falle von Russland der Indexanbieter seinen index einstellt oder sich der index in einer Art und Weise verhält, die es dem Fonds unmöglich macht, die Anpassungen im Index nachzuvollziehen, dann muss die Fondsgesellschaft das Produkt kündigen oder die Bedingungen anpassen, da sie sich dazu verpflichtet hat, sich so stark am Index auszurichten, wie es möglich ist.

Das ist der Grund, warum sich viele ETF-Produktanbieter Anfang 2023 dazu entschlossen haben, ihre Fonds zu kündigen und "abzuwickeln". Für Rainer und andere Anleger bedeutete dies, dass sie zu einem sehr schlechten Zeitpunkt, zu niedrigsten Preisen, die zudem noch nicht einmal transparent waren, und ohne Aussicht auf eine spätere Wertaufholung aus ihrem Produkt gedrängt wurden.

Physisch oder Swap-basiert - das ist hier die Frage

Im Universum der ETF-Produkte unterscheidet man grob zwei Ausrichtungen. Zum einen gibt es die "physisch replizierenden" Fonds. Diese Fonds investieren möglichst exakt genau in die Aktien und Instrumente, aus den auch der zugrundeliegende Index besteht. Im Falle von Russland-ETF war z.B. der iShares Russia ADR/GDR ein solcher Fonds. Dieser Fonds investierte direkt in russische Aktien, aber auch erheblich in die oben erwähnten "deposit receipts".

Auch dieser Fonds wurde inzwischen gekündigt und abgerechnet. Ohne eine Bindung an einen Index hätte man als Fondsgesellschaft versuchen können, die "deposit receipts" in Originalaktien zu tauschen und in Ruhe abzuwarten, was passiert. Doch eine jahrelange Hängepartie wollten die Fondsgesellschaften nicht eingehen. Wir haben Blackrock, als Verwaltrungsgesellschaft hinter den iShares-Produkten, angefragt, warum und wie sie im Anlegerinteresse handelten. Eine Antwort haben wir bis heute nicht erhalten.

Rainers ETF war jedoch "swap-basiert". Solche Fonds investieren statt in die Aktien des Index in andere Vermögenswerte und schließen darüber hinaus eine sogenannte "Swap-Vereinbarung". Diese soll sicherstellen, dass die Wertentwicklung des Fonds derjenigen des Index nahekommt. Eine solche "Swap-Vereinbarung" ist eine sehr kostengünstige und effiziente Möglichkeit, einen ETF zu betreiben. Allerdings besitzt der Fonds nicht die - in unserem Fall russischen - Wertpapiere.

Mit dem Ende der Preisstellung konnten auch die Swaps nicht mehr bewertet werden. Mehr noch, es war schlichtweg nicht möglich, die Swap-Vereinbarungen zu verlängern. Das Ende des ETF war allein deshalb schon nicht mehr zu verhindern. Allerdings stellt sich die Frage nach der Bewertung des Swaps umso mehr. Hier entstand zwangsläufig eine weitere, intransparente Bewertungsebene. Die Finanzinstitution, welche die russischen Papiere im Bestand hatte, hatte natürlich ein großes Interesse daran, den Wert auf Null zu setzen. Für Rainer und seinen Fonds galt das umgekehrte.

Eine Frage der Bewertung

Es versteht sich von selbst, dass es durch die massive Illiquidität, die hohen rechtlichen Unsicherheiten und den Druck zur Auflösung der Fonds zu erheblichen Bewertungsfragen und auch zu Interessenskonflikten kam.

Überhaupt stellt sich die Frage, wie sich ein Fonds (oder auch die DR-Programm-Banken) von Vermögenswerten trennen konnten, ohne das Sanktionsregime zu unterlaufen. Denn eine Gegenpartei kann kaum "im Westen" gefunden werden. Unsere Phantasie ist natürlich begrenzt, so dass wir vermuten würden, dass sich Handelspartner nur in Staaten finden lassen, die vom Westen nicht sanktioniert sind und auch zu Russland noch intakte Geschäftsbeziehungen aufweisen. Also Länder der BRICS-Staaten oder ehemalige russische Republiken wie Kasachstan. Mit allen Fragezeichen hinter dem Thema "Geschäfte mit politisch kritischen Ländern" ...

Erinnerungen werden wach an die späten Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als die USA Sanktionen über den Iran verhängten, um dessen Ölmarkt auszutrocken. Ein gewiefter Geschäftemacher namens Marc Rich, nomen est omen, wurde zum Milliardär, weil er half, die Sanktionsregeln zu umgehen und das Rohöl "zu waschen"; also aus illegalem Sanktions-Öl legales zu machen. Es versteht sich von selbst, dass solche Handelshemmnisse, wie sie durch das US-/EU-Sanktionsregime geschaffen wurden, immer von irgendjemanden unterlaufen werden (können). Entweder von Geschäftsmachern im Westen, die über Strohfirmen in Drittstaaten agieren. Oder durch zweifelhafte Mittelsmänner aus Drittstaaten, die kein Risiko für das große Geschäft scheuen.

Unsere Anfragen bei iShares und Amundi, etwas mehr darüber zu erfahren, wie genau man sich von den Vermögenswerten trennen konnte, wie dabei ein angemessener Preis festgestellt wurde und ob man ausschließen konnte, durch die Transaktionen entweder das Sanktionsregime zu unterlaufen oder mit zweifelhaften Adressen Geschäfte zu machen, blieben unbeantwortet. Man reagierte auf keine Anfragen. In einem Fall wurde auf Anfrage immerhin mitgeteilt, dass man sich in Anbetracht des politisch heiklen Themas nicht äußern will.

Und die Aufsicht?

Spätestens hier kommen auch die Aufsichtsbehörden ins Spiel, die ggf. solche Prozesse zu überwachen haben. Würde man denken. Seitens der Europäischen Bankenaufsicht ESMA gab es nach unserer Information nur ein Dokument aus dem Mai 2022, welches aus Anlass des Einmarsches Russlands in die Ukraine verfasst wurde und sicherstellen soll, dass Fondsmanager "geeignete Maßnahmen zur Bewertung und Liquiditätsverwaltung ergreifen", um die Interessen der Investoren zu schützen.

Einen eigenen Prüfprozess hat man bei der Aufsicht aber anscheinend nicht vorgesehen. "Fondsmanager sollen ihre Bewertungsrichtlinien und -methoden in Anbetracht der außergewöhnlichen Marktbedingungen überprüfen und gegebenenfalls anpassen", heißt es in dem Dokument. Deren eigene Prüfung soll sicherstellen, dass Vermögenswerte korrekt bewertet werden, um Arbitragemöglichkeiten oder Verwässerungseffekte zu vermeiden.

Es wurde also ins Ermessen der Kapitalverwaltungsgesellschaften gestellt, wie man diese Prozesse ausgestaltet. Eine Prüfung sollte anscheinend nur im Rahmen der regulären Prüfungshandlungen erfolgen, was in Anbetracht der Komplexität und Einmaligkeit der Vorgänge dürftig ist. In einer Anfrage an die deutsche Wertpapieraufsicht, die Bafin, verweist man uns gegenüber lediglich auf die ESMA-Verlautbarungen. Eigene Anordnungen oder Veröffentlichungen seitens der Bafin erfolgten anscheinend nicht.

Die ESMA legt in ihrem Dokument aber erhöhte Transparenzanforderungen fest. So sind Fondsmanager verpflichtet, Investoren regelmäßig und umfassend über den Status der betroffenen Vermögenswerte sowie deren Bewertung zu informieren. Zudem müssen die verwendeten Bewertungsmethoden klar offengelegt und erklärt werden.

Hiervon hat Rainer K. nichts bemerkt. Abseits der (kurzen und inhaltsarmen) Pflichtmitteilungen wurde in Bezug auf die Bewertung seiner Fondsanteile nichts offengelegt, was nachvollziehbar erklären würde, warum der Restwert seiner Anlage einer nahezu vollständigen Wertvernichtung entsprach. Auch haben die von uns betrachteten Sondervermögen keine Jahresberichte mehr veröffentlicht, die eine Dokumentation des Auflösungsprozesses bieten würde. Von den Webseiten der Fondsanbieter sind ältere Berichte teilweise oder vollständig schon gelöscht worden.

Appell an die Bundesregierung

Wie hat sich die Bundesregierung eigentlich für die Kapitalanleger eingesetzt? Immerhin wurde in dieser Zeit sowohl das Finanz- als auch das Justizministerium von FDP-Ministern geleitet, die sich sowohl für Eigentumsrechte als auch für das Aktiensparen stark machen.

Lange hat man von der Politik gar nichts gehört. Die bereits erwähnte SDK, die übrigens über diverse Newsletter das Drama um russische Wertpapiere begleitete, richtete am 20. September 2022 einen Appell an die Bundesregierung im Allgemeinen und an die Minister Lindner und Buschmann (beide FDP) im Speziellen, um auf die negativen Auswirkungen der EU-Sanktionen auf Inhaber russischer Hinterlegungsscheine ("Depository Receipts", DR) hinzuweisen. Konkret wurde darin kritisiert, dass die Sanktionen, die im Rahmen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine verhängt wurden, unbeabsichtigte finanzielle Schäden für europäische Anleger verursachen, ohne dabei einen spürbaren Beitrag zur Zielerreichung der Sanktionen zu leisten.

Die wichtigsten Punkte des Appells waren auf die Handelssperre für DRs, die Blockade von Dividenden- und Zinszahlungen, auf den "Russischen Weg“ als problematische Alternative und die fehlende Wirksamkeit der Sanktionen hinzuweisen.

Der Appell zielte darauf europäische Anleger zu schützen, die Zweckmäßigkeit der Sanktionen zu erhöhen und Anleger unnötige rechtliche und finanzieller Belastungen zu ersparen. Die SdK bot den Behörden ihre Expertise und ein persönliches Gespräch an, um mögliche Anpassungen der Sanktionen zu diskutieren.

Auf unsere Anfrage, wie die Bundesregierung auf den Appell reagierte, erhielten wir nur die lapidare Antwort, dass man ihn "zur Kenntnis genommen" hat. Aus dem SdK heißt es, dass dort keine Rückäußerung einging, noch nicht einmal eine Kenntnisnahme. Auch der Versuch des SdK, eine Petition in Gang zu bringen, war nicht erfolgreich. Anleger waren und sind bis heute auf sich allein gestellt. Die Politik schaute weg. Ob es zu einem informellen Informationsaustausch mit Branchenvertreten kam, wollte das Bundesfinanzministerium auf unsere Anfrage hin weder bestätigen noch dementieren. Dazu äußere man sich grundsätzlich nicht.

Lehren für Anleger

Welche Lehren sollten Anleger wie Rainer K. aus dieser Geschichte ziehen? Unzweifelhaft ist es so, dass Anleger die Produkte, in die sie investieren, wirklich kennen sollten. "Deposit Receipts" sind keine Aktien. Es sind Hinterlegungsscheine, über deren Schicksal im Zweifel andere bestimmen. Deren Interessen sind nicht immer mit denen der Anlegern deckungsgleich.

Dies gilt auch für Inhaber von Investmentfonds-Anteilen. Sie begeben sich in die Hände eines "Treuhänders", der sich aber zum Beispiel durch äußere Einflüsse gezwungen sehen kann, um Schaden für sich selbst abzuwenden, Anleger zur Unzeit aus einem Produkt zu drängen. Besonders gilt dies für die beliebten ETF, die neben der Kapitalverwaltungsgesellschaft auch von dem "Index-.Sponsor" abhängig sind. Böse Zungen würden behaupten, dass man bei geschickter Kenntnis der Verquickungen zwischen Index und ETF auch die eine oder andere finanzielle Transaktion zum eigenen Vorteil anstoßen kann. Vor allem dann, wenn einem der Indexanbieter, die Fondsgesellschaft und eventuell auch noch die DR-Programm-Bank gehört bzw. man erheblichen Einfluss darauf hat.

Hinzu kommt, dass der aktuelle Fall für Anleger nochmals sehr deutlich macht, dass auch die Konstruktion von ETFs ein beachtenswerter Umstand von nicht nur theoretischer Natur ist.

Das bringt uns zum Punkt der Risikoanalyse. Politische Risiken sollten von Anlegern viel wichtiger genommen werden. Ob Sanktionsentscheidungen, wie im Falle der russischen Wertpapiere, oder die Übernacht-Enteignung während der griechischen Solvenzkrise - die Politik greift bei Bedarf rigoros in die Eigentumsrechte von Anlegern ein. Wie der SdK-Appell zeigt, fehlt es den politischen Entscheidungsträgern dabei oftmals an Kenntnissen, alle Wirkungen - beabsichtigte und unbeabsichtigte - korrekt zu erfassen und zu bewerten. Ist das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen, dann haben Kapitalanleger in der Regel keine Lobby bei den politisch Verantwortlichen. Noch nicht einmal dann, wenn es sich um "Wirtschaftsliberale" handelt.

Für Anleger ebenso wichtig ist, dass die gesetzlichen Möglichkeiten in die Eigentumsrechte von Anlegern und Sparern nachteilig einzugreifen, in den letzten Jahren auch in Deutschland größer geworden sind. Hierzu zählen der strukturelle Abbau von Einlagensicherungssysteme und die EU-weiten Entschädigungs-Höchstgrenzen von 100.000 Euro je Kunde und Bank. Wie der Fall Zypern zeigt, ist ein sogenannter "bail-in", also die Haftung der Sparer für Verluste ihrer Bank, keine nur theoretische Möglichkeit. Im Solvenz- und Abwicklungsgesetz (SAG) ist die Abwicklung von Banken und Finanzinstituten geregelt. Es setzt die EU-Bankenabwicklungsrichtlinie (BRRD) um und legt fest, wie Institute in finanziellen Schwierigkeiten restrukturiert oder abgewickelt werden können, ohne dass staatliche Rettungsmaßnahmen notwendig sind.

Kernziele des SAG sind der Schutz von Einlegern, die Vermeidung systemischer Risiken und die Sicherung der Finanzmarktstabilität. Es ermöglicht der Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA) und später der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), Abwicklungsinstrumente wie den Schuldenschnitt (Bail-in) oder die Übertragung von Vermögenswerten anzuwenden. Dabei werden Verluste primär auf Anteilseigner und Gläubiger verteilt, um Steuerzahler zu entlasten. Das sollte nicht unterschätzt werden.

Anhang: Ereignisse im Ukraine-Krieg - Sanktionsentscheidungen und Gegenmaßnahmen
DatumEreignis/EntscheidungBetroffene AnlageklassenZielsetzungKernwirkungGültigkeit
Februar 2022 Ausbruch der Kriegshandlungen Alle Politischer und ökonomischer Druck auf Russland Beginn von EU- und US-Sanktionswellen Noch gültig
März 2022 EU: Ausschluss russischer Banken aus SWIFT Banken, Zahlungsverkehr Einschränkung der internationalen Transaktionen Verhinderung von Kapitalflüssen aus Russland Noch gültig
März 2022 USA: Verbot von Investitionen in russische Anleihen und Aktien Anleihen, Aktien Finanzielle Isolation Russlands US-Investoren dürfen keine neuen russischen Wertpapiere kaufen Noch gültig
April 2022 Russland: Verbot des Handels russischer ADR ADR Schutz vor Abflüssen von Kapital aus Russland Beendigung vieler ADR-Programme Noch gültig
Juni 2022 EU: Verbot des Handels mit russischem Gold Rohstoffe Reduktion russischer Einnahmequellen Beschränkung des Exports und Verkaufs russischen Goldes Noch gültig
September 2022 EU: Preisdeckel für russisches Öl eingeführt Rohstoffe Begrenzung russischer Einnahmen aus Ölexporten Untergrenze für Verkaufspreise Noch gültig
Oktober 2022 Russland: Gegenmaßnahmen für Gasexporte Energie Wirtschaftlicher Druck auf Europa Einstellung von Gaslieferungen nach bestimmten Kriterien Noch gültig
Dezember 2022 EU: Verbot von Dienstleistungen für russische Wertpapieremittenten Anleihen, Aktien Einschränkung der Refinanzierungsmöglichkeiten Keine Neuausgabe von Wertpapieren durch EU-Unterstützung Noch gültig
Februar 2023 EU: Sanktionen auf den Handel mit russischen Banken Banken, Anleihen Stärkung der Sanktionen gegen russische Finanzinstitute Schließung von Möglichkeiten zur Umgehung von SWIFT-Sanktionen Noch gültig
April 2023 Russland: Verbot des Verkaufs russischer Aktien an Ausländer Aktien Schutz der russischen Börse vor Kapitalabflüssen Einschränkung des Verkaufs an ausländische Investoren Noch gültig
Juni 2023 Clearingstellen: Einstellung der Abwicklung russischer Wertpapiere Anleihen, Aktien Verhinderung internationaler Transaktionen Keine Clearing-Services für russische Vermögenswerte Noch gültig
Oktober 2023 EU: Erweiterung der Sanktionen auf Kryptowerte Kryptowährungen Blockade alternativer Finanzierungswege Einschränkung des Handels mit russischen Kryptoprojekten Noch gültig
Dezember 2023 Depotbanken: Einfrieren von russischen Vermögenswerten in EU Alle Verhinderung der Nutzung eingefrorener Assets Keine Verfügungsrechte über eingefrorene Mittel Noch gültig
Januar 2024 Russland: Gegenmaßnahmen auf EU-Preisdeckel Rohstoffe Wirtschaftlicher Druck auf EU Anpassung der Lieferkonditionen für Öl und Gas Noch gültig
Oktober 2024 Bankenaufsicht: Verschärfung der Berichterstattungspflichten zu Russland-Geschäften Banken Verstärkte Kontrolle von Sanktionseinhaltung Transparenzpflichten für Banken verstärkt Noch gültig

 

* Name von der Redaktion geändert

Russland, Finanzpolitik, Finanzmarkt, Finanzwissen, Bafin, CSSF, Sanktionspolitik