Wohin treiben wir?
Kurt Tucholsky schrieb 1920 das Essay "Die Dämmerung". Es kommt einem in diesen Tagen unweigerlich wieder in den Sinn.
Zitat aus dem Essay
„Diese Zeit hat etwas durchaus Gespensterhaftes. Die Leute gehen täglich ihren Geschäften nach, machen Verordnungen und durchbrechen sie, halten Feste ab und tanzen, heiraten und lesen Bücher –: aber es ist alles nicht wahr.
Was man so gemeinhin Kunst und Kultur nennt: sie sind nicht möglich ohne gemeinsame Voraussetzungen. Die sind nicht mehr da. Die Grundfesten wanken. Es ist durchaus nicht allen gemeinsam und selbstverständlich, daß das Vaterland das Höchste ist, woran sich anzuschließen Pflicht und Gewinn sei – sondern das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht allen gemeinsam, daß die Familie der Endpunkt der Entwicklung und etwas Selbstverständliches sei – das ist sehr bestritten. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß der Kapitalismus notwendig oder gar nutzbringend sei – das ist sehr bestritten. Sie reden verschiedene Sprachen, die babylonischen Menschen, und sie verstehen einander nicht. Sie sprechen aneinander vorbei, und sie haben weniger gemeinsam denn je.
Seltsam, dieses Bürgertum. (Und in Deutschland sind alle Bürger.) Seltsam dieses starre Festhalten an Formen, die leer sind, an Dingen, die es eigentlich nicht mehr gibt. Vorbei, vorbei – fühlt ihr das nicht?
Berühmtheiten, die kaum welche sind – denn es dämmert eine Zeit herauf, die das nicht mehr anerkennt; Feste, die keine sind – denn es rumort in der Tiefe, und der Boden schwankt leise; Geschäfte, die zwar immer noch nach einem alten ›Recht‹ abgeschlossen werden – aber die Vorstellungen von diesem Recht lösen sich auf, lösen sich langsam auf wie Kristalle im Wasser und zergehen zu nichts. Wohin führt das alles –?
Wir versuchen, dem gänzlich Neuen mit den alten Mitteln, den alten Witzchen beizukommen. Und werden seiner nicht Herr. Es verfängt alles nicht: Humor nicht, Satire nicht; offener Kampf, Gewalt, Propaganda – die Pfeile fallen matt zu Boden, Wohin führt das alles –?
Wir wissen es nicht. Töricht, sich dagegen zu sträuben. Töricht, die Zerfallssymptome zu leugnen. Eine Welt wankt, und ihr haltet an den alten Vorstellungen fest und wollt euch einreden, sie seien so nötig und natürlich wie die Sonne. Empfinden nur wir in den großen Städten das stärker als andre? Haben wir zu wenig Distanz? Leuchtet hier, in den Brennpunkten des Hohlspiegels, alles stärker auf? Richtig mag sein, daß die Provinz das alles noch nicht fühlt – daß dort noch die Leute über uns und unsern scheinbaren Übereifer lächeln und vermeinen, das gute Alte sei noch nicht tot und werde eines Tages wiederkommen. Es kommt nie wieder, und der erste August 1914 hat nur beschleunigt, was sowieso schon im Rollen war. In leisem Rollen – und nun stürzt es.“
Ein Portrait